Predigt zum Vorstellungsgottesdienst der Hünfelder Konfirmandinnen und Konfirmanden am 19. März 2023
Ihr Name ist Hagar. Sie ist eine junge Frau. Vermutlich zwischen 18 und 19 Jahren. Wir wissen es aber nicht sicher. Sie ist Ägypterin, lebt aber nicht mehr in ihrem Heimatland. Ihr Beruf – wenn man das überhaupt so sagen kann – ist Sklavin. Fremde Menschen verfügen über sie.
Ihr Name ist Hagar. Eigentlich würde niemand ihren Namen kennen. Wie fast alle Sklaven und Unterdrückten der Weltgeschichte wäre sie vergessen worden. Der Grund, warum man ihren Namen doch kennt, findet sich in der Bibel, und zwar in dem Abschnitt, wo von dem großen Abraham erzählt wird, der als Stammvater der Religionen Judentum, Christentum und Islam verehrt wird.
Die Geschichte von Abraham kennen noch viele Menschen in unserem Kulturkreis. Abraham, der große Glaubende, der bereit ist, seinen Sohn Isaak auf den Befehl Gottes hin zu opfern. Abraham, dem Gott versprochen hat, dass von ihm ein großes Volk entsteht, das so zahlreich ist wie die Sterne des Himmels.
Hagar, die Sklavin, taucht in der Geschichte des großen Abraham auf, der in Wahrheit gar nicht so groß und glaubensstark ist, auch nicht so gerecht und mutig.
Hagar ist die persönliche Sklavin von Sarai, der Frau Abrahams. Aus diesem Grund bekommt sie die Eheprobleme zwischen ihr und Abraham hautnah mit.
Gott hatte Abraham versprochen, dass er einen Sohn bekommt. Und dann viele Enkel und Urenkel. Das Problem war, Sarai wurde einfach nicht schwanger. Mit der Enttäuschung wuchs der Druck, dass endlich etwas passieren sollte. Aber wie soll man unter Druck schwanger werden?
Die Probleme zwischen Abraham und Sarai eskalieren. Und damit beginnt die Geschichte von Hagar: (Genesis 16,1-4a – Übersetzung Basis Bibel:)
1 Abrams Frau Sarai hatte keine Kinder bekommen. Sie hatte eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. 2 Sarai sagte zu Abram: »Der Herr hat mir Kinder verweigert. Geh doch zu meiner Magd! Vielleicht kann ich durch sie ein Kind bekommen.« Abram hörte auf Sarai. 3 So gab Sarai ihrem Mann Abram ihre ägyptische Magd Hagar zur Nebenfrau. Abram wohnte damals schon zehn Jahre im Land Kanaan. 4 Er schlief mit Hagar, und sie wurde schwanger.
Ihr Name ist Hagar. Sie wird benutzt. Nicht freiwillig, sondern aufgrund der Machtverhältnisse. Als Sklavin kann sie sich nicht wehren. Sie wird zu einem Gebär-Werkzeug degradiert, vom frommen Abraham und von Sarai, der Stammmutter des Volkes Israel. Als Gebär-Werkzeug ist das Kind noch nicht einmal ihr Kind, sondern es gehört Abraham und Sarai. Sie verfügen nicht nur über ihre Gebärmutter, sondern auch über das Leben, das ihr entspringt.
Mit der Schwangerschaft hätte das Problem „Nachkommen“ gelöst sein können. Die Sklavin Hagar wäre dann vermutlich im weiteren Verlauf der Geschichte dem Vergessen anheimgefallen. Aber die Geschichte geht weiter:
(Genesis 16,4b-6:)
4b Als sie merkte, dass sie schwanger war, sah sie auf ihre Herrin herab. 5 Da sagte Sarai zu Abram:
»Mir geschieht Unrecht, und du bist schuld. Ich war es doch, die dir meine Magd gegeben hat. Kaum ist sie schwanger, sieht sie auf mich herab. Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden!« 6 Abram antwortete Sarai: »Sie ist deine Magd und in deiner Hand. Mach mit ihr, was du für richtig hältst.« Daraufhin behandelte Sarai ihre Magd so schlecht, dass diese ihr davonlief. (Ende)
Die Situation zwischen den Frauen eskaliert. Die, die durch Macht und Gewalt Abrahams schwanger geworden ist, verachtet die, die nicht schwanger werden konnte. Letztendlich ist das ein perverser Wettkampf zwischen zwei Menschen, die mehr oder weniger Gewalt und Macht zum Opfer gefallen sind. Die Frauen hätten sich ja auch zusammentun können. Sie hätten sich gegenseitig unterstützen können. Stattdessen setzen sie den gnadenlosen und erbarmungslosen Macht- und Konkurrenzkampf fort, ja, sie befeuern ihn noch.
Und, was ebenfalls auffällt: Sarai übernimmt für ihre Tat, nämlich dass sie Hagar Abraham ausgeliefert hat, nicht die Verantwortung: „Mir geschieht Unrecht“, beklagt sie sich bei Abraham. Und, wie im richtigen Leben, Schuld sind immer die anderen. Man selbst hat nie etwas getan. Darum wirft sie Abraham vor: „Du bist schuld. Du bist der Grund, dass Hagar mich verachtet.“
Abraham übernimmt ebenfalls keine Verantwortung für die Situation. Auch er fühlt sich nicht verantwortlich, auch ihn trifft keine Schuld, so seine Ansicht. Darum sagt er Sarai, dass sie mit Hagar machen soll, was sie für richtig hält. Die Schuld wird auf der Schwächsten in der Dreieckskonstellation abgeladen. Ihr Name ist Hager. Und sie ist das Opfer.
Sarai behandelt Hagar so schlecht, dass ihr nur die Aussicht bleibt, in die Wüste zu fliehen. Sie flieht aus dem Terror des Hauses Abrahams in die Weite des Todes. Wie schlecht muss es einem Menschen ergangen sein, dass er lieber die Möglichkeiten zu sterben erwägt, als in seiner vertrauten Umgebung zu bleiben?
Wieder haben sich Abraham und Sarai weder als gottesfürchtig noch als gerecht erwiesen.
(Genesis 16,7-8:)
7 Ein Engel des Herrn fand Hagar an einer Wasserquelle in der Wüste. Sie war am Brunnen auf dem Weg nach Schur. 8 Der Engel fragte: »Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her und wo gehst du hin?« Sie antwortete: »Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.« (Ende)
Ihr Name ist Hagar. Und sie wird gesehen. Sie wird von einem Engel, einem Boten Gottes, gesehen. Wer einen Menschen wirklich wahrnimmt, der fragt nach seiner Geschichte: „Wo kommst du her und wo gehst du hin?“
Zu wissen, woher man als Mensch kommt und wohin man als Mensch geht, ist für jeden Menschen wichtig. Denn es geht um die Frage, wer man ist, und wer man werden möchte. Vermutlich wurde Hagar das noch nie gefragt. Und, haben Sie, habt ihr mal eure Mitmenschen nach ihrem Lebensweg gefragt? Wer seine Geschichte erzählen kann, ist nicht mehr Objekt von anderen. Über Hagars Leben haben die beiden mächtigen Menschen, Abraham und Sarai, bestimmt. Wer seine Geschichte erzählen kann, erlebt sich selbst als jemand, der Möglichkeiten hat, der Gefühle wahrnimmt, der Fähigkeiten bei sich entdeckt.
Vermutlich hat Hagar mehr erzählt als diese kurze Aussage: „Ich bin auf der Flucht vor meiner Herrin Sarai.“ Wir Menschen brauchen Zeiten und Räume, um unsere Lebensgeschichte erzählen zu können. Wir brauchen Menschen, denen wir vertrauen können, damit wir uns selbst beim Erzählen über uns selbst klar werden. Wir brauchen auch Zeiten und Räume, um Gott erzählen zu können, wer wir sind, was uns bewegt, wohin wir gehen wollen.
Und jetzt kommt der Hammer in der Geschichte:
(Genesis 16,9-12)
9 Da sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Kehre zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter!« 10 Weiter sagte der Engel des Herrn zu ihr: »Ich werde deine Nachkommen so zahlreich machen, dass man sie nicht zählen kann.« 11 Der Engel des Herrn fügte hinzu: »Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael, ›Gott hat gehört‹, nennen. Denn der Herr hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. 12 Dein Sohn wird heimatlos sein wie ein Wildesel. Er wird mit allen im Streit liegen und getrennt von seinen Brüdern wohnen.« (Ende)
Wie verrückt muss man sein, um an den Ort zurückzukehren, wo man terrorisiert worden ist? Warum verlangt Gott das? Oder ist Hagar einfach nur dumm? Denn Abraham und Sarai werden sich nicht ändern, sondern sie weiter demütigen, beschämen, terrorisieren.
Warum macht Hagar das? Warum tut sie sich das an? Zu meinen, dass Hagar naiv oder dumm sei, wäre naiv und dumm.
Vielleicht weiß Hagar etwas über das Leben, das wir nicht wissen. Was weiß sie über schwere Zeiten, über das Leiden, Aushalten und Ertragen, über Geduld, das wir nicht wissen? Was wissen wir von unseren Freunden, Schulkameraden, Nachbarn, von ihrem Leid und ihren Schmerzen? Und, wollen wir das wissen? Wollen wir uns dem anderen wirklich aussetzen?
Das sind viele Fragen, auf die jeder selbst eine Antwort finden muss. Hagar sieht die Situation jedenfalls so:
(Genesis 16,13-16:)
13 Hagar gab dem Herrn, der mit ihr geredet hatte, den Namen El-Roi, das heißt: Gott sieht nach mir. Denn sie hatte gesagt: »Hier habe ich den gesehen, der nach mir sieht.« 14 Darum nannte man den Brunnen Beer-Lahai-Roi, das heißt: Brunnen des Lebendigen, der nach mir sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.
15 Hagar brachte Abrams Sohn zur Welt. Er nannte den Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismael.
16 Abram war 86 Jahre alt, als Hagar Ismael zur Welt brachte.
Ihr Name ist Hagar. Und sie sagt von der Begegnung mit Gott: „Gott sieht nach mir.“ Gottesbegegnung sind intim und privat. Sie sind geheimnisvoll. Hagar erfährt sich trotz ihrer schwierigen Situationen und ihren vermutlich vielen Fragen und Zweifeln als von Gott gesehen, als von Gott geliebt.
Ein liebevoller Blick, das Gefühl, verstanden und angenommen zu sein, verändert das Leben. Dass Gott Hagar sieht, verändert alles in Hagars zerbrochenem Leben. Der Blick der Liebe Gottes reicht aus der Ewigkeit hinein in die Einsamkeit einer unscheinbaren Sklavin. Sie wird gesehen und begleitet von der Liebe Gottes – auch wenn sie das zuvor niemals geahnt hat.
„Gott sieht nach mir.“ In dem Leid und der Einsamkeit unseres Lebens sieht Gott hindurch. Er kennt uns und weiß, wie es uns geht. Gott sieht, was uns zu dem Menschen gemacht hat, der wir heute sind.
Und selbst, wenn wir nicht mehr glauben oder glauben können, dass uns einer sieht: „Gott sieht nach dir.“ Amen.