Predigt zum Sonntag Exaudi am 21. Mai 2023 von Pfarrer Jürgen Gossler
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.
Wir hören auf Worte aus der Abschiedsrede Jesu. Sie stehen am Ende des 15. und am Anfang des 16. Kapitels des Johannesevangeliums.
Jesus spricht zu seinen Jüngern:
15,26 Wenn aber der Beistand kommen wird, den ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht – der wird Zeugnis geben von mir. 27 Und auch ihr seid meine Zeugen, denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.
16,1 Das habe ich zu euch geredet, damit ihr nicht abfallt. 2 Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit. 3 Und das werden sie darum tun, weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen. 4a Aber dies habe ich zu euch geredet, damit, wenn ihre Stunde kommen wird, ihr daran denkt, dass ich‘s euch gesagt habe.
Liebe Gemeinde,
als diese Worte aufgeschrieben wurden, war das, wovon sie sprechen, schon Wirklichkeit geworden: Die ersten Christen, die ja selbst Juden waren, waren schon aus den jüdischen Synagogen ausgestoßen worden. Doch schon bald stellte sich heraus, dass man den neuen Glauben dadurch nicht aus der Welt schaffen konnte. Die Zahl der Menschen, die sich davon überzeugen ließen, dass der am Kreuz gestorbene Jesus der von Gott gesandte und auferweckte Christus sei, ging nicht zurück, sondern nahm sogar ständig zu. Und so wurde die neue Sekte bald als Bedrohung der alten Religion empfunden. Und wer sich bedroht fühlt, setzt sich zur Wehr. Man sah sich gezwungen, gegen diejenigen, die vom rechten Glauben abwichen, mit aller Entschlossenheit vorzugehen. Und so kam es schon bald zu den ersten Christenverfolgungen.
Einer der eifrigsten und unerbittlichsten Christenverfolger war ein Mann namens Saulus, der sich nach seiner Bekehrung zum christlichen Glauben Paulus nannte und schließlich zum bedeutendsten christlichen Missionar wurde. Aus seinen Briefen wissen wir, dass auf ihn der Satz, den der Evangelist Johannes überliefert, genau zutrifft: „Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit.“
In dieser Meinung haben Saulus und andere Juden damals die Christen verfolgt. Für uns Christen ist es natürlich erschreckend, sich das vorzustellen: Da werden unschuldige Menschen wegen ihres Glaubens an Jesus Christus verfolgt und getötet, und die Verfolger meinen sogar noch, sie täten Gott einen Dienst damit!
Aber wenn ich die Worte, die Johannes hier überliefert, heute höre, dann muss ich nicht nur an die ersten Christenverfolgungen denken. Ich muss nicht nur daran denken, wie Christen vor fast 2000 Jahren in Palästina von Juden verfolgt und getötet worden sind, nur weil sie Christen waren. Ich muss auch daran denken, wie Juden vor etwa 80 Jahren in unserem Land von Christen verfolgt und getötet worden sind, nur weil sie Juden waren.
„Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen. Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst damit.“
In der so genannten Reichskristallnacht hat man sich nicht damit begnügt, die Juden aus den Synagogen auszustoßen, sondern man hat ihre Synagogen sogar in Brand gesetzt. Für die Juden begann damit eine Zeit, in der diejenigen, die sie töteten, meinten, sie täten damit einen Dienst. Vielleicht nicht einen Dienst für Gott, aber einen Dienst an der Volksgemeinschaft.
Ich will die Verfolgungen, die vor fast 2000 Jahren in Palästina und vor etwa 80 Jahren in unserem Land geschehen sind, nicht gegeneinander aufrechnen. Ob Juden Christen verfolgen oder Christen Juden: Das eine ist so schrecklich wie das andere. Wer auch immer wen verfolgt und tötet – auf sie alle trifft das Wort zu, das der Evangelist Johannes hier überliefert: Sie tun es, so sagt Jesus, „weil sie weder meinen Vater noch mich erkennen“.
So ist es: Wer seine religiöse oder politische Überzeugung mit Gewalt durchzusetzen versucht, der hat weder Gott erkannt noch seinen Sohn. Was Menschen zu dieser Erkenntnis führen kann, ist der Geist, den Jesus seinen Jüngern verheißt: der Geist der Wahrheit. Der Geist der Wahrheit, so sagt Jesus, wird als Beistand zu den Jüngern kommen. Und er wird für Jesus Zeugnis ablegen. Er wird in den Jüngern die Gewissheit stärken, dass Jesus wahrhaftig der Christus ist, der Sohn Gottes.
Aber der Geist der Wahrheit legt nicht für Jesus Zeugnis ab; sondern er macht die, die ihn empfangen haben, auch selbst zu Zeugen. „Und auch ihr seid meine Zeugen“, sagt Jesus zu den Jüngern. Und so war es auch. Die Jünger sind zu Zeugen der Auferstehung Jesu geworden. Sie haben allen Bedrohungen und Einschüchterungsversuchen zum Trotz Zeugnis abgelegt für die Wahrheit.
Auf Griechisch – der Sprache, in der das Neue Testament ursprünglich geschrieben ist – heißt der Zeuge „martyros“. Davon kommt das Wort „Märtyrer“. Ein Märtyrer ist jemand, der mit seinem Leben Zeugnis ablegt für die Wahrheit. Einige der Jünger Jesu haben das getan. Sie haben ihr mutiges Zeugnis mit dem Leben bezahlt. Wer dagegen für seine Überzeugung Andersgläubige oder Andersdenkende verfolgt oder sogar tötet, bezeugt damit niemals die Wahrheit, sondern immer nur die eigene Verblendung. Wer sich durch irgendwelche Parolen zur Gewalt gegen Menschen anstacheln lässt, nur weil sie irgendwie anders sind, der folgt nicht dem Geist der Wahrheit, sondern verfällt dem Geist der Lüge.
Wie erfolgreich der Geist der Lüge Menschen in ihren Bann ziehen kann, dafür ist die Propaganda des Dritten Reiches ein erschreckendes Beispiel. Ein Beispiel dafür, wie die Lüge Hass sät und Gewalt erntet. Und wenn erst einmal die Saat der Lüge aufgegangen und die Gewalt an die Macht gekommen ist, dann wird es auch für die, die sich nicht von der Lüge blenden lassen, schwer, die Wahrheit zu bezeugen. Denn der Geist der Wahrheit schützt offenbar nicht vor Anfeindungen. Ja, er scheint die Feindschaft derer, die vom Geist der Lüge verblendet sind, geradezu herauszufordern. Und dennoch hat es immer wieder Menschen gegeben, die dem Geist der Lüge standgehalten haben und seinen Vertretern die Wahrheit ins Gesicht gesagt haben. Es hat immer wieder Menschen gegeben, die das Zeugnis für die Wahrheit höher geachtet haben als das eigene Leben.
Aber solche Menschen waren zu allen Zeiten die Ausnahme. Nicht alle Christen sind zur Zeit der ersten Christenverfolgung zu Märtyrern geworden. Und nur wenige Christen haben zur Zeit des Dritten Reiches Widerstand geleistet. Und doch hat die Geschichte immer wieder gezeigt, dass es gerade diese wenigen Menschen waren, die der Wahrheit zum Durchbruch verholfen haben. Es bedurfte – Gott sei es geklagt! – immer wieder solcher Menschen, die die Wahrheit mit Leib und Leben bezeugt haben, um schließlich auch andere von der Wahrheit zu überzeugen.
Nun leben wir heute – Gott sei Dank – in einem Land, in dem wir nicht so schnell um unser Leben fürchten müssen, wenn wir für die Wahrheit des christlichen Glaubens eintreten. Umso wichtiger ist es aber, dass wir es da, wo es notwendig ist, auch tun. Es ist und bleibt für uns als Christen eine wichtige Aufgabe, von Anfang an denen den Boden zu entziehen, die Menschen, die anders sind als sie selbst, ausstoßen wollen und dabei auch vor Gewalt nicht zurückschrecken.
Denn eines hat die Entwicklung in unserem Land in den letzten Jahren deutlich gezeigt: Der Geist der Wahrheit ist auch in einem demokratischen Staat immer gefährdet vom Ungeist der Lüge, dessen Folge die Gewalt ist. Man denke nur an den Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der vor vier Jahren (1. Juni 2019) einem rechtsradikalen Anschlag zum Opfer fiel, oder an die Ermordung von neun Menschen mit Migrationshintergrund vor drei Jahren (19. Februar 2020) in Hanau.
Und deshalb ist und bleibt es notwendig, dass gerade wir als Christen diesen Ungeist in die Schranken weisen, indem wir rechtzeitig Zeugnis ablegen für die Wahrheit. Denn dann brauchen nicht erst wieder die Stärksten und Mutigsten unter uns zu Märtyrern zu werden. Und wenn wir uns einsetzen für den Schutz von Menschen, die anders sind: die aus anderen Ländern kommen, eine andere Sprache sprechen, vielleicht auch einen anderen Glauben haben als wir selbst – dann können wir gewiss sein, dass wir den Geist der Wahrheit auf unserer Seite haben: den Geist, den Jesus seinen Jüngern damals wie heute verheißt. Amen.